Neulich habe ich ein Rudel Wölfe gesehen. Also gut, um der Wahrheit die Ehre zu geben, ich habe die Tiere nicht mit eigenen Augen gesehen, aber auf einem Video. Aufgereiht wie Perlen auf einer Kette flitzten die scheuen Raubtiere am helllichten Tag über eine grüne Wiese und das mitten in Hessen. Wow, habe ich gedacht, was für eine Sensation! Nun muss ich gestehen, dass ich durch die Arbeiten an meinem zweiten Krimi derzeit alles so begierig aufsauge wie ein Schwamm, was auch nur im Entferntesten mit Wölfen zu tun hat. Wieso, weshalb, warum soll an dieser Stelle natürlich noch nicht verraten werden. Aufgeregt wie ein Kind unterm Weihnachtsbaum teilte ich das Video mit meinen Freunden. „Kenn ich. Das sind die Wölfe aus Obermöhrlen“, so das mehr oder weniger einhellige Echo. Aha, dachte ich, die Sensation hatte also schon die Runde gemacht. Hätte ich mir eigentlich denken können. Videos und Fotos von Wolfssichtungen sind momentan ja geradezu der Renner in den sozialen Medien. Nur eine Stimme meldete lauthals Zweifel an: „Ein solch großes Rudel, in Obermöhrlen, nie im Leben!“ Flugs wurde sachkundiger Rat eingeholt und siehe da, das Video entpuppte sich als Fake. Enttäuscht über den Betrug beförderte ich die Fälschung umgehend in meinen digitalen Papierkorb. Nur wenige Tage später poppte in meinem Mitteilungseingang ein weiteres Foto auf, das einen stattlichen Isegrim auf einer Waldwiese zeigte. Ich war skeptisch. War der einsame Wolf etwa wieder nur das Ergebnis geschickter Pixel-Manipulation? Doch nein! Nachforschungen ergaben, dass kein Zweifel an der Echtheit des Bildes bestand. Ob er nur auf der Durchreise ist oder bald erneut Schlagzeilen macht, weil eventuell auch das ein oder andere Osterlamm auf seinem Speiseplan steht, bleibt abzuwarten. Vielleicht sollte man bei der Gelegenheit aber dann auch mal darauf hinweisen, dass allein in Hessen jährlich rund 37.000 Schafe, Ziegen und Kälber aufgrund von Erkrankungen oder Unfällen verenden und als so genannte Falltiere in Tierkörperbeseitigungsanlagen landen.
Petra Spielberg © 2023