Ironie des Schicksals


Rudolf Geissler war ein bemerkenswerter Mann. Besser gesagt: Er war bemerkenswert friedfertig. Nie verlor er die Beherrschung. Stets nahm er die Dinge wie sie kamen, auch wenn er schlecht geschlafen hatte oder seine letzte Schicht mal wieder ungemein aufreibend gewesen war. Doch er fand, dass es zu nichts führte, sich über Dinge aufzuregen, die er sowieso nicht ändern konnte.

Ja, friedfertig. Das traf es aus seiner Sicht.

Die meisten seiner Kollegen waren zu seinem Leidwesen weniger duldsam. Sie werteten jede Überstunde und jeden bürokratischen Akt als persönlichen Affront und beklagten sich in einem fort: über ihren Arbeitgeber, über die Patienten, über ihre Mitarbeiter und natürlich über die Politik. Über diese Großkopferten in Berlin, die ihnen den ganzen Mist eingebrockt hatten und fortlaufend neuen Blödsinn ersannen, um ihnen Knüppel zwischen die Beine zu werfen, während sie sich abrackerten wie in einem Hamsterrad. 

Überhaupt, fand Geissler, schienen viele seiner Mitmenschen das Leben an sich als unzumutbare Bürde zu empfinden. Klar kannte auch er Momente des Grolls oder fühlte sich bisweilen ungerecht behandelt. Aber er vermied es, lauthals in das allgemeine Gejammer und Gezeter einzufallen und wehrte sich nach Kräften dagegen, sich von der schlechten Laune anstecken zu lassen, die ihn allenthalben umgab wie dichter Nebel. Stattdessen hatte er sich angewöhnt, etwaige Ärgernisse an den Rand seines Bewusstseins zu drängen, als wären sie Sperrmüll, der zur Abholung bereitstand.

Auch gestern hatte er es so gehandhabt, obwohl es ihm durchaus zugestanden hätte, aus der Haut zu fahren. 

Es ging um seinen jüngsten Steuerbescheid. 

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    Auf seine freundlich vorgetragene Frage, wie es sein könne, dass seine Nachzahlung dieses Mal so ungewohnt hoch ausfiel, hatte ihm der Mitarbeiter des Finanzamtes, mit dem er deswegen telefonierte, frech erwidert: »Stellen Sie sich nicht so an. Sie verdienen als Arzt doch genug und müssen wegen der paar Kröten in Zukunft ganz sicher nicht am Hungertuch nagen.« 

    Geissler hatte einen Moment lang entrüstet nach Luft geschnappt, die Unverschämtheit dann jedoch kurzerhand weggeatmet und das unerquickliche Gespräch zähneknirschend, aber höflich beendet. 

    Seine Taktik, sich nicht unnötig über die Nackenschläge, die einem das Leben verpasste, aufzuregen, hatte wieder einmal wunderbar funktioniert. 

    Doch Geissler sollte die Friedfertigkeit, derer er sich rühmte, schon sehr bald über Bord werfen wie lästiges Treibgut. Das Telefonat mit dem Finanzbeamten mit dem ungewöhnlichen Namen Handloser sollte dabei eine entscheidende Rolle spielen. Doch davon ahnte Geissler zu jenem Zeitpunkt noch nichts. Auch das unangenehme Ziehen in der Magengegend, das ihn seit dem Gespräch quälte, deutete er nicht als schlechtes Omen.

    Und so betrat der Arzt am nächsten Morgen, getragen von einer Welle milder Frühlingsluft und im festen Glauben, dies werde ein Arbeitstag wie jeder andere, gut gelaunt das Krankenhaus, in dem er seit siebzehn Jahren arbeitete. Während er ein fröhliches »Einen guten Morgen allerseits« in die Runde trällerte, eilte er beschwingten Schrittes den Gang hinunter. Er tauschte sein Hemd und seine Jeans gegen seine stahlblaue Berufsbekleidung und ging in die hell erleuchtete Notaufnahme. 

    Nur wenige Atemzüge später ging es los. 

    Ein Schlaganfall. Männlich, Mitte Siebzig, adipös, langjähriger Raucher. Der Klassiker. Geissler verkniff es sich, etwas zur Vorgeschichte des Kranken zu sagen und machte sich zügig an die Arbeit. Er stellte fest, dass der Mann weder sprechen, noch seine linke Seite bewegen konnte, ordnete einige neurologische Untersuchungen an, leitete danach die notwendige Therapie zur Auflösung des Blutgerinnsels ein, das den Schlaganfall ausgelöst hatte, und übergab den Fall schließlich zur Weiterbehandlung an die zuständige Abteilung im Haus. 

    Kaum hatte der Mann die Notaufnahme verlassen, hatte Geissler dessen Gesicht auch schon wieder vergessen. Auch dessen Name interessierte ihn nicht weiter. Für Geissler waren alle Patienten lediglich Fälle. Er hatte sein Gehirn darauf trainiert, jeden Neuzugang nur nach seiner Diagnose einzuordnen und abzuarbeiten. Das genügte und verschaffte ihm zudem die notwendige Distanz. In den Anfängen seiner Karriere hatte er noch den Fehler begangen, dem ein oder anderen Schicksal, das ihm begegnete, einen gewissen Raum in seinen Gedanken zu geben. Aber das hatte ihm nur Alpträume beschert. Seither machte er sich keine Mühe mehr zu hinterfragen, was aus denjenigen geworden war, die die Notaufnahme durchlaufen hatten: ob sie schnell oder langsam genesen oder möglicherweise verstorben waren.

    Als nächstes brachte ein Pfleger ein siebenjähriges Mädchen herein. Sie war auf dem Schulweg mit dem Fahrrad gestürzt und hatte sich den rechten Unterarm gebrochen. Geissler ließ ein Röntgenbild anfertigen und besah sich die Aufnahme. Der Bruch war glatt und musste nicht operiert werden. Der Arzt lobte das Mädchen dafür, dass es so tapfer war und schickte den Pfleger mit dem Kind in den Gipsraum. »Gute Besserung«, gab er der Kleinen mit auf den Weg, während er sich bereits dem nächsten Fall zuwandte: ein Herzinfarkt. 

    Es folgten in kurzen Abständen: ein Verkehrsunfall mit Polytrauma, eine gerissene Bauchschlagader, eine epileptische Krise, ein Blinddarmdurchbruch, ein Fall mit unklaren Lähmungserscheinungen sowie eine schwere allergische Reaktion. 

    Alles war wie immer. Hektisch und nervenaufreibend.

    Aber Geissler hatte die Situation im Griff und wie üblich auch sich selbst, obwohl der Dienst ihm wieder einiges abverlangte und sein Magen weiterhin unterschwellig rebellierte. 

    Jeder abgearbeitete Fall gab ihm allerdings auch ein gutes Gefühl. Er genoss es, die Weichen zur Rettung eines Lebens stellen zu können wie ein Bahnwärter. Ja, er gab es ungern zu. Aber mitunter fühlte er sich wie der sprichwörtliche Gott in Weiß.

    Dann fand ein Gezeitenwechsel statt. Die Flut an Patienten ließ nach. Ebbe trat in der Notaufnahme ein und nahm die Geschäftigkeit der ersten Stunden mit sich in den großen Ozean der Vergangenheit. 

    Geissler hatte endlich Zeit für eine Pause. Er wusch sich zum wahrscheinlich dreißigsten Mal an diesem Morgen die Hände, setzte sich an seinen Schreibtisch, schob die Papiere, die zuvorderst lagen nach hinten und ließ sich von einer Schwester einen Kaffee bringen. Eine junge Assistenzärztin gesellte sich zu ihm, indem sie sich krachend auf der Kante seines Schreibtisches niederließ. 

    »Oh Mann, manche Patienten können einem den allerletzten Nerv rauben«, stieß sie gereizt hervor, während im Hintergrund das Monitoringsystem zur Überwachung der Vitalfunktionen eines Schockpatienten leise piepste.

    »Na, na«, tadelte Geissler sie milde.

    Doch die Ärztin schimpfte unverdrossen weiter. »Nein wirklich. Einige Leute haben es echt nicht verdient, dass wir uns für sie abmühen. Manchmal denke ich, ich hätte besser ...«

    Geissler stellte die Ohren auf Durchzug, bemüht, die Litanei an sich abperlen zu lassen, während sein Magen ihm saure Signale in die Speiseröhre sandte.

    Dann geschah es. 

    Die Ärztin gestikulierte wild mit den Armen und stieß dabei Geisslers noch randvolle Kaffeetasse um. Der kochend heiße Inhalt ergoss sich über seine Hose und verbrühte ihm die Oberschenkel. Geissler schoss in die Höhe und stöhnte schmerzerfüllt auf. Im selben Moment klingelte sein Mobiltelefon. 

    An der Stelle hätte Geissler durchaus aufgehen können, dass ungewöhnlich viele atmosphärische Störungen in der Luft lagen, die ihn heute seine Friedfertigkeit kosten konnten. 

    Tat es aber nicht. 

    Er unterdrückte seinen spontanen Unmut über die Ungeschicklichkeit seiner jungen Kollegin, tupfte seine Hose notdürftig trocken und eilte in den Schockraum. 

    »Was haben wir hier?«, fragte er den Notarzt, als er an den Tisch herantrat, auf dem der Neueingang lag.

    »Der Mann wollte in seinem Garten einen Baum fällen, ist dabei mit der Motorsäge abgerutscht und hat sich den linken Unterschenkel halb weggesäbelt. Er trug keine Schnittschutzhose. Ich fürchte, die Tibia, der Tibialis Anterior und mehrere Sehnen sind hin. Wir haben den Patienten stabilisiert. Sein Kreislauf drohte aufgrund des hohen Blutverlustes und des Schocks zu versagen.« 

    Geissler wandte sich an den Mann. »Hallo. Können Sie mich hören?«, fragte er ihn und sah ihm forschend ins Gesicht.

    Der Patient nickte schwach. Er war leichenblass und seine Haut war mit einem kalten Schweißfilm überzogen. »Werde ich meinen Unterschenkel verlieren?« würgte er ängstlich hervor, während Geissler seine Wunde eingehend studierte.

    Geissler antwortete nicht. »Wie heißen Sie?«, erkundigte er sich stattdessen, nicht, weil ihn die Identität ausgerechnet dieses einen Patienten interessierte, sondern um den Mann am Reden zu halten, damit er nicht ohnmächtig wurde. 

    »Handloser«, flüsterte der Mann. »Klaus Handloser.«

    In Geisslers Gehirn macht es klick. 

    Der Finanzbeamte.

    Geissler trat einen Schritt vom Tisch zurück und wurde sich im selben Moment wieder der schmerzhaften Verbrühungen an seinen Oberschenkeln bewusst. Gleichzeitig blitzten in seinem Gehirn die unverfrorenen Worte auf, die Handloser ihm gestern am Telefon um die Ohren gehauen hatte und sein guter Vorsatz, stets ein friedfertiger Mensch zu sein, zerplatzte urplötzlich wie eine Seifenblase. Eine ungewohnte Wut ergriff von ihm Besitz, vereinte sich mit dem Groll, den er bei anderen Gelegenheiten heruntergeschluckt, aber offensichtlich nie richtig verdaut hatte, und er nahm sich vor: Er, Rudolf Geissler, würde zurückschlagen. Dieses eine Mal würde er zurückschlagen und zwar mit voller Wucht. Er würde es dem Mann, der da hilflos vor ihm lag, heimzahlen. Jedes verdammte einzelne Wort würde er ihm heimzahlen, diesem Arschloch von einem Finanzbeamten.

    »So, so, Handloser«, sagte er kalt lächelnd. »Mein Name ist Geissler, Dr. Rudolf Geissler. Sie erinnern sich?«

    In Handlosers Augen trat ein unruhiges Flackern.

    »Nein? ... Wir haben gestern telefoniert wegen meines Steuerbescheids«, half ihm Geissler auf die Sprünge. »Na, fällt der Groschen? ... Übrigens wirklich dumm gelaufen mit Ihrem Unfall. Die Wunde sieht übel aus. Ganz übel. Ich weiß nicht, ob wir Ihren Unterschenkel retten können. Ich denke, eher nicht. Sie sollten sich vielleicht besser in Beinloser umbenennen.« Geissler lachte rau. »Aber machen Sie sich deswegen keine Sorgen. Ich bin sicher, das wird Sie nicht weiter beeinträchtigen. Sie sind ja schließlich Beamter und üben ihre Tätigkeit vorwiegend im Sitzen aus.«

    Dann ordnete er an, den panisch dreinblickenden Handloser in Narkose zu legen.


Überm Deich


Die Wolken hingen schwer überm Deich, als Bettina die letzten hauchdünnen Pfannkuchen mit Schinken und Spargel belegte und zu dreifingerdicken Röllchen formte. Je zwei weiße Stangen und eine grüne. Der Optik wegen. 

Die Wolken hingen noch immer schwer überm Deich, als sie die Röllchen in eine Auflaufform schichtete, Kräutersoße darüber goss und geriebenen Käse oben draufgab. Wird schon, dachte sie mit einem hoffnungsvollen Blick zum Himmel, bevor sie ihre Augen auf das große Containerschiff heftete, das träge über die Elbe glitt. Whale Watching nannte sie es im Stillen, wenn Touristen außer sich vor Begeisterung stehenblieben, sobald einer der dicken Pötte vor ihnen durchs Wasser pflügte. Die Münder weit aufgerissen und mit dem Zeigefinger in der Luft herumgestochert, als wollten sie Löcher in einen Schweizer Käse bohren, standen sie dann auf dem Deich und staunten, bevor sie das Motiv gleich mehrfach digital verewigten, auch wenn das Netz voll war von Fotos mit Containerschiffen. Aber was zählte das schon, wenn man das Wunder mit eigenen Augen gesehen hatte. Bettina wartete auf den Tag, an dem einer der Pötte seine Fluke hob und damit aufs Wasser peitschte. Nur so zum Spaß und fürs Familienalbum.  

Den Schafen waren die Pötte egal. Die Elbe, das Land und einen seiner Funktion enthobenen Leuchtturm im Ringelshirt: Mehr brauchte es für sie nicht zum glücklich sein. Sie hatten außerdem Wichtigeres zu tun. Dem Deichgrün seinen Formschnitt zu verpassen, war eine Ganztagsbeschäftigung. Eine solche Tätigkeit erforderte Ausdauer und Konzentration. Da hielt man sich nicht mit Walbeobachtungen auf. Und wenn man mal Pause hatte, lag man wie ein vom Himmel gefallenes Schönwetterwölkchen auf dem weichen Marschboden und verdaute. 

Die Wolken hingen noch immer schwer überm Deich, als Bettina in den Garten ging, um zu schauen, ob auch nichts fehlte. Das Saunahaus mit dem Bullauge dümpelte wie ein verlassenes Unterseeboot auf dem frisch geschnittenen Rasen vor sich hin, während der Naturpool dem Garten das Flair eines südländischen Urlaubsparadieses verlieh. Um elf würden die ersten Gäste eintreffen, um mit ihr und Alexander die Einweihung ihres neu angelegten Gartens zu feiern. Alles war akribisch vorbereitet und geplant. Nichts sollte dem Zufall überlassen werden. 

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    Wind kam auf und die Wolken verdichteten sich zu einem kompakten Schiefergrau, als Bettina das Partyzelt mit den niedlichen Sprossenfenstern betrat, um die Tischdeko einer letzten Prüfung zu unterziehen. Die Böen fuhren mit Gebrüll in die Planen und ließen die Fahne am Mast vor dem Bungalow knatternd strammstehen. »Standsicher, UV-beständig und zu hundert Prozent wasserdicht«, hatte Alexander stolz versichert, als er gestern mit Feuereifer das vollverzinkte Stahlgestänge des Zelts verschraubt hatte. »Das wirft der stärkste Sturm nicht um«, hatte er bekräftigt und zur Demonstration heftig am Gestänge gerüttelt.

    Bei den Stehtischen im Freien war Bettina sich da nicht mehr so sicher. Vielleicht hätte sie besser auf die eleganten Hussen für 54 Euro 99 das Stück verzichten sollen. Sie boten dem Wind viel Angriffsfläche. Nun war es zu spät. Außerdem konnte das Wetter am Deich jederzeit wieder umschlagen. Das wusste man hier nie so genau und nahm es mit stoischer Gelassenheit. Nur frisch Zugezogene und Auswärtige gaben sich die Blöße, gegen den Sturm anzubrüllen und den Regen zu verfluchen, wenn es dann doch anders kam und es einen vom Deich fegte und Eimerweise vom Himmel kübelte. Die Einheimischen dagegen fügten sich in ihr Schicksal und passte ihre Kleidung den Naturgewalten an. 

    Die ersten Gäste trudelten ein. Ein Ehepaar aus Föhr, langjährige Freunde von Bettina und Alexander, mit ihrer Labradorhündin Libi im Schlepptau. Während Alexander den Zweibeinern stolz das Anwesen präsentierte, verlieh Jack-Russel-Terrier Fipps seiner Freude über ein Wiedersehen mit seiner alten Freundin Ausdruck, indem er eine Husse mit einem kräftigen Strahl markierte. Libi interessierte sich unterdessen mehr für das liebevoll angelegte Beet rund um den Naturpool und buddelte - die Arthrose in ihren altersschwachen Knochen ignorierend - eifrig drauflos. Tulpenzwiebeln, Gräser und Erde segelten im hohen Bogen durch die Luft und landeten im wohl temperierten Becken. Die Hündin schien das Prinzip der biologischen Wasserreinigung wörtlich zu nehmen. 

    Den Gastgebern blieb keine Zeit, die Missgeschicke zu beseitigen, denn nun ging es Schlag auf Schlag. Einer nach dem anderen trafen die übrigen Gäste ein. Küsschen wurden getauscht, Schultern geklopft und Mitbringsel überreicht. Schon bald erfüllte lautes Gelächter, Stimmengewirr und das Klappern von Besteck und Geschirr das Grundstück. 

    Der Wind hatte inzwischen an Stärke zugenommen und zum kompakten Schiefergrau hatte sich ein ungesunder Gelbstich gesellt, als Hauke und Sören, die Zwillinge von nebenan, hinter ihren Eltern in den Garten stürmten. Sören hatte ein kleines Wasserflugzeug aus Plastik dabei und Hauke ein ferngesteuertes Sportboot. 

    »Dürfen wir damit in euerm Pool spielen, Bettina?«, fragte Hauke. 

    Ohne eine Antwort abzuwarten, entledigte sich sein Bruder bereits seiner Hose und seines T-Shirts und stieg mit seinem Wasserflugzeug ins Becken. 

    »Ich weiß nicht, sieht ganz nach einem Gewitter aus«, gab Bettina zu bedenken. 

    »Nu‘ sei doch nich‘ so ‘ne Bangbüx«, bügelte Malermeister Enno, der Vater der Zwillinge, ihren Einwand mit norddeutscher Zuversicht weg. »Dat treckt umrüm«, sagte er und steuerte in seinen gelben Gummistiefeln zielstrebig das Buffet an. Währenddessen nahm sein Sohn Hauke, inzwischen ebenfalls nur noch mit einer Badehose bekleidet, Anlauf und landete mit einer Arschbombe im Pool, mitten auf Sörens Wasserflugzeug, woraufhin dieser in ein sirenenartiges Geheul ausbrach. 

    Das Gewitter dachte jedoch nicht im Traum daran, umrüm zu trecken. Das Schiefergrau wich mehr und mehr einem Tiefschwarz, das sich über das raue, flache Land legte wie ein dicht gewebter Teppich. Auch der Wind hatte noch ein Schippchen zugelegt und fegte nun in Orkanstärke über den Deich.

    »Wir sollten besser alle ins Zelt gehen«, schlug Alexander vor. 

    Nur ein paar Übervorsichtige folgten seinem Rat und retteten sich vorsorglich unter die Planen. Die Hartgesottenen dagegen umringten tapfer die Stehtische, getreu dem Motto „Sturm ist erst, wenn die Schafe keine Locken mehr haben“ und klammerten sich eisern an ihre Gläser und Teller wie an rettende Bojen, während das büschen Wind mit aller Macht an ihren Kleidern, Blusen und Hosen zerrte, Servietten durch die Luft wirbelte und Frisuren verstrubbelte. Auch eine Lichterkette hielt es nicht mehr an ihrem Platz. Mit einem beherzten Ruck riss sie sich los, tanzte durch die Luft und wickelte sich schließlich um einen Buchsbaum, hinter dem Libi gerade ihr Geschäft verrichtete.

    »Dörhollen!«, feuerte Enno die Standhaften an, als die ersten Tropfen, dick wie Knicker, auf die Erde prasselten, während Alexander eilends Friesennerze verteilte. 

    Dörhollen dachte sich auch der Regen und erhöhte die Schlagzahl. Einem Wasserfall gleich flutete er das Land, als müsste er es von all seinen Sünden reinwaschen, derweil sich beim Zelt das vollverzinkte Stahlgestänge verzweifelt ins Zeug legte und  schwankend und wimmernd dem Heulen und Tosen zu trotzen versuchte. 

    Irgendwann wurde es auch den Frischluftfanatikern zu bunt. Triefend vor Nässe flüchteten sie in ihrer Fischerkluft zu den anderen. 

    Nur die Schafe harrten, im vollsten Vertrauen auf den Imprägnierschutz ihrer Wolle, geduldig auf dem Deich aus.  

    Der Sturm hatte mittlerweile Gefallen daran gefunden, sich an den Gartenmöbeln auszutoben. Ein Stehtisch flog, die Husse wie zu einem Segel aufgebläht, an einem der Sprossenfenster vorbei. Wie ein Buckelwal beim Rückwärtssalto, dachte Bettina noch, kurz bevor das Stahlgestänge knirschend nachgab und die versammelten Partygäste samt Biertischen und Sitzbänken unter der reißfesten Plane begrub. 

    Nicht eine einzige Wolke hing mehr überm Deich, als Bettina eine Viertelstunde später auf allen Vieren unter dem eingestürzten Zelt hervorkrabbelte und entsetzt den Garten betrachtete, der einem Schlachtfeld glich. »Hauptsache zu hundert Prozent wasserdicht«, murmelte sie kopfschüttelnd und ging ins Haus, um nach dem Spargelauflauf zu sehen.



Der Platzbock


Drei Mal schon hatte er ihn gesehen, den stolzen Recken. Seine ausladenden, mit einer wunderschönen Perlung und tiefsitzenden Rosen verzierten Stangen, die sich weit über die Lauscher hinausschoben, schienen ihm sagen zu wollen, schau her, willst du es wirklich wagen, mir, dem stärksten Bock am Platz, das Revier streitig zu machen?

Er wollte.

Schließlich war es sein Revier und er bestimmte, wem hier welcher Platz gebührte.

Drei Mal schon war der erfahrene Rote als Sieger vom Platz gegangen, hatte sich entweder an der Kante des großen Buchenwalds herum gedrückt, ohne ins Freie zu ziehen, seine Anwesenheit nur durch lautes Plätzen und Fegen verratend, oder hatte mit großen Sprüngen die Flucht durchs hohe Getreide ergriffen, sobald er seines Herausforderers gewahr wurde. 

Doch er hatte Zeit. 

Die Zeit war sein engster Verbündeter; seine Ausdauer, sein sicherer Blick und seine ruhige Hand waren sein größtes Kapital.

Mochte der Gehörnte noch so vorsichtig sein und sich auch durch den nachgeahmten Schmachtgesang einer Artgenossin nicht täuschen lassen, irgendwann würde ihm ein Fehler unterlaufen; ein Moment der Unachtsamkeit, ein kurzes Verhoffen an der richtigen Stelle und die Bühne wäre wieder frei für junges, frisches Blut.

Wie viele Nachkommen mochte der kapitale Sechser schon gezeugt haben? Zehn, zwölf, fünfzehn? Er wusste es nicht. Genug jedenfalls, um Platz zu machen für einen würdigen Nachfolger, der fortan mit seinen Genen den Bestand seiner Art innerhalb der Reviergrenzen sichern würde. 

Noch eine gute Stunde bis zur Dämmerung. Die schmale Sichel des Mondes vermochte die Erde zu dieser frühen Stunde kaum zu erhellen.

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    Er fühlte sich gut heute, ausgeschlafen und vital, trotz der Kopfschmerzen, die er beim Aufstehen verspürt hatte. Lautlos schloss er den Kofferraumdeckel, schultere seinen Drilling, der ihm in den zurückliegenden gut dreißig Jahren schon viele gute Dienste geleistet hatte, und begab sich zu seinem Sitz. 

    Auf leisen Sohlen schlich er über den frisch gefegten Pirschpfad, behutsam einen Fuß vor den anderen setzend, seinen treuen vierbeinigen Gefährten wie ein Schatten an seiner Seite. Von Zeit zu Zeit hielt er kurz inne und lauschte, um sich zu vergewissern, dass seine Anwesenheit auch wirklich unbemerkt blieb.

    Noch acht Schritte und er war am Ziel. Schwarz ragte die Kanzel vor ihm auf und verschmolz beinahe vollständig mit der Dunkelheit.

    Trotz seiner 72 Jahre erklomm er behände die wenigen Stufen, während sich der Hund, der auch ohne Worte wusste, was von ihm erwartet wurde, geräuschlos unter dem Sitz ablegte.

    Mit geübten Handgriffen richtete er sich ein und fügte sich in seine Umgebung wie das letzte Teilchen in ein Puzzle.

    Bereits nach wenigen Augenblicken verharrte er so regungslos, dass es den Anschein hatte, als ob er schliefe. Doch er war hellwach, seine Sinne geschärft wie die eines Raubtiers, das jede noch so kleine Bewegung, jedes noch so leise Geräusch, jede noch so schwache Duftnote registrierte und im Hinblick auf seine tödlichen Absichten analysierte. Bisweilen hob er nur wie in Zeitlupe den rechten Arm, um mit dem Fernglas den nahen Waldrand abzusuchen, der das Feld wie eine undurchdringliche Wand vom Rest der Welt trennte.

    Eine Dreiviertelstunde saß er nun schon so da, mit nichts anderem beschäftigt, als zu lauern und zu hoffen. Doch der brave Bock ließ auf sich warten.

    Erst als sich die Umrisse der Bäume zaghaft aus der Dunkelheit schälten, vernahm er, wie der Hund unter ihm sich leise regte. 

    Angestrengt suchte er das vor ihm liegende Weizenfeld ab, bis er plötzlich eine Bewegung in den Halmen am rechten Rand wahrnahm. Sachte, ganz sachte nahm er die Waffe hoch und legte sie lautlos auf der gepolsterten Kante der Kanzel ab, ohne die Stelle im Getreide aus den Augen zu lassen.

    Schnell maß er in Gedanken die Entfernung ab. 

    40 Meter. Die Distanz wäre perfekt!

    Ein kleiner Schwindel erfasste ihn und für einen kurzen Moment hatte er den Eindruck, als verschwimme das Bild vor seinen Augen. Aber er blinzelte die irritierenden Signale seines Körpers einfach weg.

    Es vergingen weitere Minuten, in denen der Wald langsam zum Leben erwachte und die ersten Vögel ihren morgendlichen Gesang anstimmten. 

    Im Weizen herrschte absolute Ruhe. 

    Auch sein Hund verhielt sich wieder mucksmäuschenstill. Doch er war viel zu erfahren, um anzunehmen, dass die Bewegung im Korn nichts zu bedeuten gehabt hätte.

    Und tatsächlich! Ganz leicht nur fingen die Halme mit einem Mal wieder an zu schwanken, als würde ein zarter Windhauch durch sie hindurch fahren und sie sachte von einer Seite zur anderen wiegen.

    Er ließ die Stelle nicht mehr aus den Augen und richtete seine volle Konzentration gänzlich auf das, was ihm das Getreide hoffentlich jeden Moment offenbaren würde.

    Für einen Moment kam es ihm so vor, als würde all das, was jenseits des fraglichen Fleckchens lag, aus seinem Blickfeld verschwinden, wie in einem schwarzen Loch, so sehr strengte er sich an, den Bereich zu fixieren. 

    Wieder vergingen zähe Minuten, in denen nichts geschah. Die Finger seiner linken Hand, auf denen der Kolben seines Drillings ruhte, fühlten sich bereits ganz taub an. 

    Plötzlich sah er, wie sich ein imposantes Gehörn über die Ähren erhob, zwar kurz nur, aber lang genug, um ihm die nötige Gewissheit zu verschaffen. 

    Er war es! Das war sein Sechser!

    Noch nie hatte er ihn so dicht vor sich gehabt. Eine freudige Ahnung befiel ihn, dass heute er und nicht der Rote als Sieger vom Platz ziehen würde. Jetzt galt es nur noch, das Schicksal nicht herauszufordern, sondern geduldig zu warten, bis sich eine Gelegenheit böte, die Kugel fliegen zu lassen. 

    Wieder tauchte die knöcherne Trophäe aus den Halmen auf. Diesmal drehte der Recke sein graues Haupt in Richtung Kanzel und sah ihm mit seinen schwarzbraunen, kreisrunden Augen geradewegs an. 

    Der erfahrene Jäger aber verharrte wie zu Stein erstarrt in schussbereiter Position hinter seiner Waffe und blieb so für den Gehörnten unsichtbar.

    Selbst der brave Hund rührte sich nicht und wartete gespannt, aber folgsam auf den erlösenden Moment, in dem der Recke fallen würde. 

    Doch der Rote ließ sich Zeit und arbeitete sich tief geduckt Meter für Meter im schützenden Weizen Richtung Waldrand vor. 

    Die Spannung steigerte sich ins Unerträgliche und kostete den Jäger Mühe, das leichte Zittern, das ihn befiel, zu unterdrücken.

    Endlich!

    Nur noch wenige Zentimeter trennten den Recken von dem breiten grünen Streifen, der den Übergang in den Wald bildete. Jetzt hieß es, Nerven zu bewahren. Denn dort, und nur dort, böte sich ihm die Chance, den Roten zu strecken, bevor der in den rettenden Einstand einwechseln konnte. 

    Er schob den Stecher nach vorn, ließ den Zeigefinger direkt oberhalb des Abzugsbügels verweilen und atmete tief ein und aus.

    Da! 

    Von einer Sekunde auf die andere erschien der Bock in seiner vollen Pracht auf dem frischen, kurzen Grün. 

    Doch er zögerte, da das Tier im selben Moment, als er den Drilling auf sein Herz ausrichten wollte, eine kleine, elegante Drehung vollführte und dadurch halb spitz auf ihn zu stand, sodass er die Kugel nicht sauber ansetzen konnte.

    Er atmete  langsam aus, zog die Waffe noch etwas fester in seine Schulter und zwang sich zu Geduld.

    Lange jedoch konnte er die Position nicht mehr beibehalten. Inzwischen fühlte sich schon sein gesamter linker Arm kribbelig an und auch der lästige Schwindel meldete sich wieder. Doch er wollte sich seinen Triumph nicht durch einen schlechten Schuss vermiesen.

    Plötzlich reckte der Rote seinen Äser, um an einen tief herabhängenden Zweig mit frischen Buchenblättern heranzukommen, und drehte sich erneut, diesmal so, dass er sich ihm seitlich präsentierte.

    Jetzt passte alles!

    Der Jäger ließ seinen Zeigefinger auf den Abzugsbügel gleiten und zog durch. Der Schuss zerriss die morgendliche Stille und ehe sich der Bock versah, lag er auch schon im grünen Gras. 

    Doch kein fröhliches Waidmannsheil erklang von der Kanzel.  Denn ein rasender Schmerz hatte dem Schützen zeitgleich mit seiner Beute nicht nur die Sinne, sondern das Leben geraubt, während der Hund immer noch geduldig auf das Signal seines Herrn zum Aufbruch wartete.


Stürmische Liebe


Linker Hängeschrank auf. Eine von den Porzellantassen mit dem Blumenmuster herausgeholt. Dann einen Teller im passenden Dekor dazu. 

Rechter Hängeschrank auf. Ein kurzes Zögern, dann der Griff zur orangefarbenen Müslischale. Die rosafarbene passte zwar besser zum Geschirr. Aber die war ihr gestern aus den Händen geglitten und hatte jetzt einen Sprung.

Morgens waren die Steifigkeit und die Schmerzen am schlimmsten. Brot konnte sie nur noch fertig geschnittenes kaufen. Ihr fehlte die Kraft, um das Messer durch den Laib zu führen, vor allem, wenn das Brot, so, wie sie es am liebsten mochte, eine dicke, kräftige braune Kruste hatte. 

Sie ballte langsam die Hände zur Faust und öffnete sie wieder. Einmal. Zweimal. Dreimal. Was, wenn sie sich irgendwann nicht mehr selbst versorgen konnte? Sie mochte gar nicht daran denken. Sie musste dringend bei ihrem Arzt vorbeischauen. Die Medizin machte schließlich ständig Fortschritte. Vielleicht wüsste er ein neues Mittel für sie. 

Aber nicht heute. Für heute war Sturm angesagt. Da jagte man keinen Hund vor die Tür, geschweige denn eine alte Frau. Na ja, sie übertrieb. So alt war sie noch nicht. Die durchschnittliche Lebenserwartung einer Frau betrug derzeit 83,6 Jahre. Das hatte sie erst neulich in der Tageszeitung gelesen. Statistisch gesehen könnte sie also noch 21,3 Jahre leben. 

21,3 Jahre! 

Sie seufzte. Wenn sie Kinder hätte oder Enkelkinder, wäre das vielleicht etwas anderes. Aber so.

Aus der Besteckschublade: ein Messer, ein Kaffeelöffel und den Müslilöffel (sie besaß nur den einen, aber den würde sie nach dem Frühstück wie jeden Morgen schnell mit der Hand spülen). Die Zuckerdose stand noch auf dem Tisch vom Kaffee, den sie gestern Nachmittag getrunken hatte. Nach vier Uhr trank sie zwar für gewöhnlich keinen Kaffee mehr, da sie dann nachts nicht schlafen konnte. Aber gestern hatte sie dringend einen gebraucht, weil ihr Kreislauf schlapp gemacht hatte. Lag wahrscheinlich am Wetterumschwung. Dieses ständige Auf und Ab bei den Temperaturen und dieser dauernde Sturm, das hielt ja das stärkste Pferd nicht aus. Prompt hatte sie bis zwei Uhr nachts wachgelegen. Aber egal. Dann würde sie halt heute Abend früh schlafen gehen. Es störte sich eh niemand daran, wenn sie zeitig zu Bett ging.

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    Kühlschrank auf: Butter, Quark, Milch, die Kirschmarmelade (Aprikosenkonfitüre mochte sie zwar lieber, aber die war leer und sie müsste erst wieder neue besorgen), den Jogurt (nur den mit 3,5 Prozent Fett! Light-Produkte kamen bei ihr nicht auf den Tisch), und das Schälchen mit den Heidelbeeren – erst alles aufs Tablett und dann auf den Tisch, damit nur ja nichts herunterfiel. Sie hatte keine Lust, gleich morgens Früh den Boden aufwischen zu müssen.

    Im Frühsommer gönnte sie sich auch schon mal frische Erdbeeren. Aber jetzt war September. Und tiefgekühlt aus der Tüte mochte sie Erdbeeren nicht. Wenn sie aufgetaut waren, nahmen sie immer diese seltsame, dunkle Färbung an und schmeckten matschig. Heidelbeeren dagegen gingen zu jeder Jahreszeit, auch wenn es heutzutage fast überall nur noch Kulturheidelbeeren gab, von denen man nicht mehr diese schöne blaue Zunge bekam, wie von den Waldheidelbeeren in ihrer Kindheit.

    Kritisch besah sie sich ihr Arrangement und vergewisserte sich, dass sie nichts vergessen hatte. Unwahrscheinlich. Schließlich tätigte sie jeden Morgen dieselben Handgriffe, seit – ja, wie lange eigentlich schon? – sie versuchte es im Kopf zu überschlagen, gab es dann aber auf. Sie war heute zu müde zum Rechnen. Zu lange jedenfalls. 

    Früher hatte Hans immer den Frühstückstisch gedeckt. 

    Ja, früher!

    Wenn sie an ihre Zeit mit Hans zurückdachte, kam es ihr vor, als sei das in einem anderen Leben gewesen. Manchmal dachte sie sogar, es wäre gar nicht ihr Leben gewesen, sondern das einer anderen Frau.

    Seltsam, wie schnell sich die Dinge änderten, wenn man plötzlich allein dastand, als wäre man nur noch die Hälfte von dem, der man einmal gewesen war, als fehlte der entscheidende Teil, um als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu gelten, wie ein Yin ohne Yang, oder wie die Chinesen das nannten. Wobei sie nicht wusste, welche Hälfte sie eigentlich war, die weiße oder die schwarze?

    Ob es Frauen in anderen Ländern auch so ging? Oder war das ein typisch deutsches Phänomen, dieses Gefühl von Unvollständigkeit, das einem die Menschen vermittelten, wenn man keinen Partner hatte?

    Aber wo noch einmal einen Mann finden, der zu ihr passte? Singlebörsen im Internet kamen für sie nicht in Frage. Sie mochte sich nicht anpreisen wie frischer Blumenkohl. Außerdem bezweifelte sie, dass sich Männer noch für sie interessierten. Die meisten orientierten sich ja lieber nach unten, was das Alter anging. Zehn, zwanzig Jahre Unterschied, was machte das schon. Hauptsache, junges Gemüse und keine halb verwelkte Pflanze wie sie. 

    Diese Vereinsmeierei war auch nicht ihr Ding. Verschroben hatte ihre Freundin Heidrun sie letzthin genannt, »Du bist schon so verschroben wie eine alte Jungfer.« »Ja, und«, hatte sie geantwortet, »lieber verschroben, als kreuzunglücklich. Siehst ja bei Anne, wohin das führt. Hat ihre mühsam erkämpfte Selbständigkeit noch einmal auf dem Altar der Zweisamkeit geopfert, und was hat sie davon? Muss sich jetzt herumkommandieren lassen, wie eine Dienstmagd.«

    Ohne hinzugucken, griff sie sich die Kaffeekanne und nahm sie mit hinüber zum Frühstückstisch. Das war die Routine. Sobald alles auf dem Tisch stand, war der Kaffee durchgelaufen. Dafür bedurfte es keines Blickes mehr. 

    Der alte Holzstuhl mit dem gestreiften Polster knarzte leicht, als sie sich hinsetzte, als würde er sich darüber beschweren, in seinem betagten Zustand noch die Last ihres Körpergewichts tragen zu müssen. Dabei wog sie gerade mal siebenundfünfzig Kilogramm, was man bei einer Körpergröße von ein Meter und zweiundsechzig (auf die zwei Zentimeter legte sie großen Wert!) wahrlich nicht als Übergewicht bezeichnen konnte.

    Sie goss sich eine Tasse ein. Aber nur dreiviertel voll. Sonst wäre nicht mehr genug Platz für die Milch. Sie gab immer einen ordentlichen Schuss Milch hinein, damit der Kaffee schneller abkühlte. Heißer Kaffee schmeckte ihr nicht.

    Bei dir ist alles kalter Kaffee, hatte Hans sie immer aufgezogen. Ach, Hans, geliebter Hans! Warum bloß musste er so früh von ihr gehen? Sie hatten noch so viel vorgehabt: die Welt bereisen, Konzerte und Theateraufführungen besuchen und gemeinsam mit Freunden das Leben feiern, bevor das Alter ihnen einen Strich durch die Rechnung machte. 

    Inzwischen hatten sich fast alle ihrer früheren Freunde von ihr abgewandt, warum, war ihr schleierhaft. Schließlich hatte sie nie die trauernde Witwe gemimt, trotz der bohrenden Einsamkeit, die sie manchmal befiel. Da sie zu stolz war, um sich anzubiedern, hatte sie es dabei bewenden lassen und sich darum bemüht, sich einen neuen, kleinen Freundeskreis aufzubauen, der ausschließlich aus alleinstehen Frauen bestand, bis auf Günther. Aber Günther zählte nicht als Mann. Günther war schwul. 

    Sie strich erst dick Butter aufs Brot, darüber eine Schicht Quark und schließlich die Kirschmarmelade. Anschließend setzte sie ihre Lesebrille auf und langte mit der linken Hand neben ihren Teller. Sie stutzte. Da hatte sie doch glatt vergessen, die Tageszeitung heraufzuholen. Langsam wurde sie wirklich tüttelig. Erst neulich hatte sie den Wohnungsschlüssel von innen stecken lassen und musste den Schlüsseldienst rufen. 150 Euro für eine Viertelstunde Arbeit! Ein teurer Spaß war das gewesen.

    Seufzend stand sie auf, schnürte sich den Gürtel ihres Morgenmantels enger um die Taille und tappte in ihren braunen Pantoletten zur Wohnungstür und die sieben Stufen hinab ins Erdgeschoss. Ihr Appartement lag im Hochparterre, wie zwischen zwei Welten, mit einem kleinen Garten, aber groß genug, um einen Tisch und zwei Stühle hinzustellen und ein paar Kübelpflanzen.

    Der Wind zerrte an ihren Haaren, zwischen deren grauen Strähnen vereinzelt noch der dunkle Kastanienton durchschimmerte, auf den sie immer so stolz gewesen war, als sie die Haustür öffnete. Schnell überwand sie die paar Schritte bis zum Briefkasten und angelte die Zeitung aus dem Schlitz. Sie wollte gerade umkehren, als sie ein leises Winseln hörte.

    Was war das? Sie neigte den Kopf und horchte angespannt. Vielleicht war es doch nur der Wind gewesen.

    Nein,  …, da war es wieder. Verwirrt blickte sie sich um. Sie hatte den Eindruck, dass das Geräusch aus dem großen schwarzen Abfallbehälter kam, der auf dem Bordstein stand und auf seine Leerung wartete. 

    Unschlüssig näherte sie sich ihm. Kein Zweifel. Das Winseln kam aus der Tonne. Zögernd griff sie nach dem Deckel, während sie fieberhaft nachdachte. Was, wenn ein tollwütiges Tier darin steckte und sie ansprang? Doch das Winseln war so kläglich, dass sie sich schließlich ein Herz fasste und den schweren Deckel langsam anhob. 

    Vorsichtig lugte sie in den Spalt und glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Mitten auf dem stinkenden Unrat hockte ein winziges zotteliges Wesen und starrte sie mit schwarze Knopfaugen ängstlich an. 

    Ein Hündchen! Und was für ein Süßes! Sie vergaß augenblicklich all ihre Bedenken, klappte den Deckel noch etwas weiter nach hinten und fasste dem kleinen braun-weißen Knäuel mit der freien Hand unter den Bauch. Behutsam hob sie es an. Ein warmes, feuchtes Rinnsal floss zwischen ihren Fingern hindurch. Aber es kümmerte sie nicht.

    »Wer bis denn du?«, fragte sie mit sanfter Stimme und betrachtete es liebevoll.  »Wer schmeißt denn so etwas Goldiges wie dich in den Müll.« 

    Kopfschüttelnd schloss sie den Deckel und streichelte dem Hündchen zart über den Kopf. Eng an  ihre Brust gedrückt, eilte sie mit dem zitternden Bündel zurück in ihre Wohnung. 

    In der Küche angekommen, setzte sie das Tier auf dem Fußboden ab, wo es vor lauter Aufregung gleich ein weiteres Bächlein auf die Fliesen machte.

    »Ist nicht schlimm. Das wische ich später auf«, sagte die Frau und lächelte. »Ich schaue erst einmal, ob ich etwas zu essen für dich habe. Du hast bestimmt großen Hunger, du armer Wurm.« 

    Im Kühlschrank fand sie noch einen Rest Leberwurst, den sie mit ein wenig Quark vermengte. Sie stellte das Schälchen auf den Boden. Unsicher schnupperte das Hündchen daran und blickte fragend zu ihr auf. 

    »Was ist? Magst du keine Leberwurst?« 

    Die Frau nahm das zottelige Fellknäuel wieder hoch, setzte sich mit ihm an den Küchentisch und fing an, es mit den Fingern zu füttern. Nachdem das Hündchen seine Scheu vor der fremden Kost überwunden hatte, begann es, das Schälchen, das sie ihm hinhielt, gierig auszuschlecken.

    Die Frau lachte. »Na, siehst du! Das schmeckt gut, nicht wahr?« Strahlend sah sie ihrem neuen, kleinen Mitbewohner dabei zu, wie er seinen Hunger stillte. »Gleich werde ich dich baden, damit du nicht mehr so stinkst. Und danach gehen wir zwei zum Tierarzt. Wir wollen ja sichergehen, dass du nicht krank bist. Aber zuallererst wollen wir uns einen Namen für dich überlegen.«  

    Sie setzte das Hündchen wieder ab, das sich, inzwischen sicherer geworden, daran machte, die Wohnung zu erkunden. 

    »Du bist mir ja ein neugieriger kleiner Fratz.« Kichernd lief die Frau ihm hinterher, während sie über einen Namen nachsann. »Weißt du was, ich werde dich Picco nennen, von Piccolo, der Kleine.«

    Sie überließ Picco seinem Erkundungsgang und ging ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Als sie fertig war, lockte sie ihn mit zärtlichen Worten zu sich, zog sich ihren Mantel über und ging, ihren neuen, kleinen Freund auf dem Arm tragend hinaus in den Sturm.


Verdammte Klicks


Rooooaamm! 

Das Röhren übertönte sämtliche Fahrgeräusche.

Er sah in den Rückspiegel. Das feuerrote Geschoss näherte sich in rasender Geschwindigkeit, wie eine tieffliegende Rakete.

Was war das denn für ein Idiot? Ein Audifahrer. Typisch! Mit Lichthupe und mindestens 180 Sachen auf der Überholspur. Dabei fuhr er selbst schon 150 Stundenkilometer. 

In aller Gemütsruhe passierte er den Lkw, während der aufgemotzte Sportwagen an seiner Stoßstange klebte wie eine lästige Fliege, wechselte dann auf die rechte Fahrspur und zeigte dem Fahrer hinter den getönten Scheiben einen Vogel. 

»Ich glaube, du hast sie nicht mehr alle! Hoffentlich bleibst du an der nächstbesten Leitplanke hängen, du Schwachkopf!«

Der Turbo heulte auf und schoss, angetrieben von 380 Pferdestärken, wie ein Pfeil an ihm vorbei. Binnen Sekunden war er aus seinem Blickfeld verschwunden. 

So ein Spinner! Sein Puls raste.

Nach einer Weile schaute er auf sein Navigationsgerät. Noch gut 250 Kilometer bis Köln. Diese ewige Pendelei zwischen München und dem Rheinland ging ihm auf die Nerven. Über fünf Jahre ging das jetzt schon. Jeden zweiten Freitag 580 Kilometer hin und montags in aller Frühe das Ganze wieder retour. Er kannte inzwischen jeden Baum, jeden Busch und jedes Autobahnschild auswendig. Gut, dass die Strecke recht unfallträchtig war. Dadurch gab es wenigstens ab und an mal ein wenig Abwechslung. So ein ordentlicher Crash war das Salz in der Suppe bei dieser eintönigen Fahrerei.

Trotzdem. Er hatte die Schnauze voll von diesem dauernden Hin-und-Her-Gegurke. Das musste ein Ende haben. Er würde seine Liebste am Wochenende vor die Wahl stellen. Entweder, sie zog endlich zu ihm nach Neuperlach oder er beendete die Beziehung, ein für alle Mal. Schöne Frauen gab es schließlich auch in Bayern.

Er schob den Mitschnitt vom Abschiedskonzert von Unheilig ins CD-Fach, drehte den Lautstärkeregler hoch und sang grölend mit.


»Es fällt mir schwer,

Ohne dich zu leben.

Jeden Tag zu jeder Zeit

Einfach alles zu geben.

Ich denk so oft

Zurück an das, was war.

An jedem so geliebten,

Vergangenen Tag

Ich stell mir vor,

Dass du zu mir stehst

Und jeden meiner Wege

An meiner Seite gehst.

Ich denke an so vieles, seitdem du nicht mehr bist.

Denn du hast mir gezeigt,

wie wertvoll das Leben ist.

Wir waren geboren, um zu leben,

Mit den Wundern jeder Zeit.

Sich niemals zu vergessen,

Bis in aller Ewigkeit.

Wir waren geboren, um zu leben,

Für den einen Augenblick.

Bei dem jeder von uns spürte,

wie wertvoll Leben ist...«


Er verstummte.

Vor ihm staute sich der Verkehr. Er befand sich jetzt kurz hinter Aschaffenburg. Auf diesem Stück war regelmäßig Stau, da nur wenige Kilometer weiter die A3 und die A45 zusammenliefen. 

Er drückte die kleine schwarze Taste an der Audioanlage, die die CD aus dem Schlitz fahren ließ, und suchte den Verkehrsfunk. 

»...auf der A3 kommt es in Fahrtrichtung Frankfurt wegen eines Unfalls am Seligenstädter Dreieck zu Verzögerungen«, hörte er den Sprecher sagen. »Zeitweilig stehen nur zwei Fahrstreifen zur Verfügung. Der Stau beträgt bereits rund fünf Kilometer.«

Na also. Er lächelte und fädelte sich zwischen einem Mercedes und einem Toyota wieder in die linke Spur ein. 

Leise summte er den Refrain vor sich hin.


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    Im stop and go arbeitete er sich Meter für Meter mit der Blechkolonne vorwärts, während die Sonne erbarmungslos vom Himmel brannte. 

    Nach etwa zehn Minuten hörte er das Martinshorn der Rettungskräfte von hinten herannahen.  Im Rückspiegel verfolgte er, wie sich die zweispurige Autoschlange zögerlich öffnete und sich die Rettungsfahrzeuge langsam und mit blinkendem Fernlicht durch die sich auftuende Lücke quälten. Auch vor ihm wichen bereits einige Übereifrige an den rechten und linken Rand aus, um eine Mittelgasse zu bilden.

    Er selbst hielt weiter Spur und ließ die Fahrer- und Beifahrerscheibe herunter. Nur keine Eile. Eine warme Brise erfüllte den Innenraum seines Hondas und strich ihm sanft über Arme und Gesicht.

    Kurz darauf sah er nach einem erneuten Blick in den Rückspiegel, dass der Krankenwagen, der die Kolonne der Einsatzfahrzeuge anführte, nur noch zwei Autolängen hinter ihm war. Der Klang des Martinshorns gellte in seinen Ohren. Endlich zog auch er seinen Wagen nach links und ließ die Retter vorbei. 

    Der Verkehr wurde immer zäher.

    Ein Blick auf seinen Tacho verriet ihm, dass es bis zum Unfallort nicht mehr weit sein konnte. Ungeduldig trommelte er mit den Fingern auf sein Lenkrad und hielt Ausschau. 

    Da. Dort vorne muss es sein. 

    Neugierig reckte er den Hals, konnte aber nicht viel erkennen, da zwei Streifenwagen und die Einsatzfahrzeuge der Rettungskräfte ihm die Sicht verstellten.

    Er nahm sein Mobiltelefon in die Hand und rollte langsam weiter, bis er schließlich auf Höhe der Unfallstelle angekommen war. Schlagartig überzog ein breites Grinsen  sein Gesicht.

    Der feuerrote Audi hatte sich halb unter einen Lkw geschoben. Von dem schnittigen Sportwagen war nur noch ein zerbeulter Trümmerhaufen übrig. Autoteile lagen quer über die Fahrbahn verstreut. Neben dem Autowrack sah er einen Mann in einer glänzend roten Blutlache liegen. 

    Er trat auf die Bremse, schaltete die Filmfunktion ein und lehnte sich so weit es ging hinüber zum Beifahrerfenster, um die Szene auf seinem Handy festzuhalten. Er war mitten drauf und filmte, wie der Notarzt sich verzweifelt bemühte, den Fahrer zu reanimieren. Und dann: Exitus! 

    Jep! Das beste Drehbuch schrieb doch noch immer das Leben. 

    Er war genau um richtigen Moment vorbeigekommen. Keine Sekunde zu früh oder zu spät. Wenn er Glück hatte, hatte er sogar das Gesicht des Fahrers gefilmt, bevor der sich für immer von diesem Erdball verabschiedet hatte. 

    Ein Hochgefühl bemächtigte sich seiner. Das Material würde ihm in den sozialen Netzwerken Unmengen an Klicks bescheren. 

    Hinter ihm hupten die ersten Ungeduldigen, aber er störte sich nicht daran, sondern warf in aller Seelenruhe einen Blick auf seine Aufnahme, um sicherzugehen, dass er wirklich alles Wesentliche erfasst hatte. Erst als irgendjemand etwas in sein Ohr brüllte, blickte er erschrocken auf.

    Scheiße verdammt! Ein Bulle.

    Der Polizist war stinkesauer und deutete auf sein Handy.

    Widerwillig reichte er dem Beamten das Mobilteil. Hoffentlich würde er  den Film nicht löschen. Dann wäre alles umsonst gewesen.

    Der Polizist sah sich das Video an und wollte wissen, was er sich dabei gedacht hatte. Er setzte ein gleichgültiges Gesicht auf und zuckte nur leicht mit den Schultern. Was sollte er dazu auch schon sagen.

    Der Beamte riss die Fahrertür auf und forderte ihn auf, mitzukommen. Widerwillig stieg er aus und folgte dem Uniformierten zögerlich bis zur Unfallstelle.

    Direkt vor der Leiche blieben sie stehen. Der Polizist befahl ihm, sich den Toten genau anzusehen. 

    Was sollte das denn jetzt? Er schluckte und wollte sich abwenden. Aber der Bulle ließ nicht locker. 

    Er atmete tief durch und drehte den Kopf langsam nach rechts. Er hatte noch nie eine Leiche von Angesicht zu Angesicht gesehen und fing heftig an zu schwitzen. 

    Der Mann war ungefähr in seinem Alter, Anfang 30, dunkle Haare, sportliche Statur. Sein Gesicht und seine Kleidung waren über und über mit Blut besudelt und sein Oberkörper wirkte seltsam eingedrückt. Der Anblick brannte sich augenblicklich in sein Gehirn ein.

    Von nahem wirkte der Tod plötzlich so viel unbarmherziger und endgültiger als auf dem Video. Ein galliger Geschmack breitete sich in seinem Mund aus und er fürchtete, sich übergeben zu müssen. Mit beiden Händen fuhr er sich über sein leichenblasses Gesicht.

    Sein Hochgefühl war verflogen. Am liebsten wäre er davongelaufen, aber der Beamte zwang ihn, stehenzubleiben, während er ihm die Leviten las und etwas von Straftatbestand und Freiheitsstrafe faselte. 

    Halbherzig murmelte er eine Entschuldigung. Wäre er doch einfach weitergefahren. 

    So viel Ärger für ein paar verdammte Klicks.


Jahwe und die verloren geglaubten Träume 


Wild tanzten die Flocken vom Himmel. Wäre der Wind nicht gewesen, der sie in eisigen Böen vor sich hertrieb wie eine Herde Schäfchen, hätte der Wintereinbruch etwas geradezu Zauberhaftes gehabt. So aber eilten die Menschen mit verfrorenen Wangen und roten Nasen, die Mützen tief über die Ohren gezogen und die Münder hinter dicken Strickschals verborgen, durch die verschneiten Straßen, um noch schnell die letzten Einkäufe zu erledigen, bevor die Geschäfte schlossen. In den Rinnsteinen sammelte sich der Matsch, während sich die Gehwege mehr und mehr in gefährlich glatte Rutschbahnen verwandelten.

Es war Heiligabend. In wenigen Stunden würden die meisten Bewohner des kleinen Dorfs mit ihren Liebsten in ihren geheizten Stuben sitzen und nach einer gemeinsamen Mahlzeit nach altem Brauch das Fest begehen.

Nur der alte Mann mit der schwarzen Melone auf dem schlohweißen Haar hatte es nicht eilig. Gemächlich wanderte er die Straßen entlang, während er mit der einen Hand seine Kopfbedeckung festhielt und mit der anderen seinen hölzernen Gehstock schwang, den ein fein geschnitzter Knauf zierte. Es hatte den Anschein, als würde das ungemütliche, nasskalte Wetter ihm nicht das Geringste ausmachen, ja, als wäre er sogar immun gegen die Kälte, denn er war lediglich mit einem dünnen Wollmantel bekleidet und hatte seinen karierten Schal locker um den Hals geschlungen. Trotz der Glätte passierte er festen Schrittes die Auslagen der Schaufenster, wobei ihn die bunten Waren dahinter ebenso wenig interessierten, wie die zahllosen Passanten, die geschäftig an ihm vorbei hasteten. Dennoch war auch er nicht ohne Ziel unterwegs. 

Am Ausgang des Dorfes, wenige Meter vor der nächsten Straßenecke blieb er plötzlich stehen und neigte aufmerksam den Kopf. Ein leises Weinen drang an sein Ohr. Ein Ausdruck des Erkennens huschte über sein Gesicht, als hätte er gefunden, wonach er suchte. Entschlossen wandte er sich nach links und durchquerte die spärlich beleuchtete Zufahrt, die geradewegs zu einem Hinterhof führte. Je näher er den Hauseingängen kam, umso herzzerreißender wurde das Schluchzen. Urheber des laut geäußerten seelischen Schmerzes war ein kleiner Junge, der in der hintersten Ecke des Hofs auf den nassen Stufen vor einer Kellertür hockte. Die Schultern des Jungen bebten, während sein Kopf auf seinen Armen ruhte.

 Zu den Füßen des Jungen lag ein umgekippter Schubkarren. Die Holzscheite, die sich quer über den Hof verteilten, stellten zweifelsohne den Inhalt der Karre dar. Der alte Mann nahm an, dass der Junge versucht hatte, den vollbeladenen Karren durch den Hof zu schieben, wobei dieser vermutlich Schlagseite bekommen hatte und die Fracht herausgefallen war. 

Er beugte sich zu dem Knaben hinunter und legte ihm begütigend eine Hand auf die Schulter. »Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte er.

Der Junge, der den Mann nicht hatte kommen hören, blickte erschrocken auf. Sein Schluchzen erstarb. Er musterte sein Gegenüber skeptisch und zog geräuschvoll die Nase hoch.

»Wer sind Sie?«, fragte er.

»Hab keine Angst«, beruhigte ihn der alte Mann und strich ihm sanft über den zerzausten Schopf. »Ich tue dir nichts. Ich habe dich weinen gehört und wollte nur nach dir schauen.«

»Ich brauche keine Hilfe«, erwiderte der Junge. Er war ihm sichtlich unangenehm, dass der alte Mann seine Tränen gesehen hatte. Mit dem Ärmel seiner zerschlissenen braunen Jacke wischte sich er sich den Rotz von der Nase und stand auf. Zitternd vor Kälte wuchtete er den Schubkarren hoch und machte sich daran, die nassen Holzscheite wieder einzusammeln. 

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    Der alte Mann sah ihm interessiert zu. »Wie heißt du denn?«, erkundigte er sich.

    »Tobias«, murrte das schmächtige Kerlchen, in der Hoffnung, der Alte würde ihn in Ruhe lassen, wenn er ihm seinen Namen verriet. 

    »Tobias«, murmelte der Alte. »Ein hübscher Name.«

    Der Junge zuckte mit den Schultern. »Kann schon sein. Aber ich muss jetzt heim, meiner Mutter das Holz bringen, damit wir es über die Weihnachtstage warm haben.« Entschlossen packte er die Griffe des Schubkarrens und bemühte sich, seine Fracht durch den Hof Richtung Straße zu bugsieren. Doch schon nach wenigen Metern geriet er mit seiner schweren Ladung auf dem rutschigen Untergrund ins Schlingern und der Karren kippte ein weiteres Mal um.

    »Mist, verdammt!« Wütend trat er vor die leere Stahlwanne, während sich seine Augen gegen seinen Willen erneut mit Tränen füllten. 

    Mitleidig betrachtete der alte Mann den tapferen Jungen, dessen ganzes Erscheinungsbild ärmlich wirkte. Neben der zerschlissenen Jacke trug er eine dunkelblaue viel zu kurze Hose, die bereits mehrfach geflickt worden war, und an den Füßen ein Paar ausgefranste Turnschuhe, die den eisigen Temperaturen kaum standhalten konnten. Und wie aufs Stichwort fing der Knabe an, vor Kälte mit den Zähne zu klappern.

    »Was hältst du davon, wenn du erst einmal mit zu mir kommst und dich bei einer heißen Schokolade und einem Bratapfel aufwärmst?«, fragte der alte Mann. »Und danach kümmern wir uns darum, dein Holz nach Hause zu schaffen.« Aufmunternd sah er den Jungen an.

    Tobias dachte nach. Die Aussicht auf eine heiße Schokolade und einen duftenden Bratapfel erschien ihm ungemein verlockend. Doch er kannte den Mann ja kaum. Was, wenn er nicht so gütig war, wie er tat? Eine Weile rang Tobias mit sich, aber sein Hunger und sein Wunsch, sich aufzuwärmen, waren größer als seine Angst und so willigte er ein. »Na schön. Aber ich darf meine Mama nicht zu lange warten lassen. Sie macht sich sonst große Sorgen.«

    »Natürlich.« Der alte Mann lächelte verständnisvoll. »Komm, lass uns gehen, sonst holst du dir noch den Tod bei dem Wetter.«

    Gemeinsam verließen die beiden den düsteren Hof. Inzwischen waren die Straßen menschenleer. Das ungemütliche Schneetreiben hatte aufgehört und eine friedliche Atmosphäre lag über dem Dorf. Die Häuser und Wohnungen rings herum waren hell erleuchtet und Tobias fiel zum ersten Mal an diesem Tag auf, dass es überall nach Weihnachten duftete.

    »Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte er, als sie zusammen über den Gehweg marschierten.

    »Verzeih! Wie unhöflich von mir. Gestatten, . . .« Der alte Mann deutete eine galante Verbeugung an und lupfte seine Melone; eine Handvoll Schnee rieselte herab und gesellte sich zu der grauweißen Masse zu seinen Füßen, »mein Name ist Jahwe.«

    »Jahwe?« Tobias kicherte. Einen solch komischen Namen hatte er noch nie gehört. Zugleich amüsierten ihn die drollig-höflichen Manieren seines Begleiters.

    »Er stammt aus dem Alten Testament und bedeutet ˃ich bin da˂.«

    Ich bin da? Tobias sah Jahwe entgeistert an. Er hatte wohl schon vom Alten Testament gehört, wusste aber nur, dass es irgendetwas mit der Bibel und mit Gott zu tun hatte. Aber warum Namen dort eine Bedeutung hatten, erschloss sich ihm nicht. Doch er wagte nicht, nachzufragen, aus Angst, der Alte könne ihn für dumm halten. 

    Neugierig musterte er Jahwe von der Seite, als sie ihren Weg fortsetzten. Sein Begleiter war etwa doppelt so groß wie er und von schlanker Statur. Er trug einen gepflegten, halblangen Bart, der, anders als sein Haar, nicht weiß, sondern graumeliert war. Sein Alter konnte Tobias schlecht schätzen. Hatte er bis eben noch gemeint, er habe es mit einem Greis zu tun, erschien ihm Jahwe, jetzt, wo er ihn sich genau betrachtete, viel jünger, ja, beinahe alterslos. Oder lag es nur daran, dass er keine Falten hatte? Das Gesicht seines Großvaters jedenfalls, der letztes Jahr an einem Schlaganfall gestorben war, war voller Runzeln gewesen. 

    »Wie weit ist es noch?«, erkundigte er sich. Er fror noch immer erbärmlich, auch wenn die Bewegung seinen steifen, kalten Gliedern guttat. 

    »Gleich dort vorne ist es.« Jahwe deutete mit seinem Stock die Straße entlang. 

    »Das große Haus da, am Ende der Straße?«

    »Nein, rechts davon.«

    Verwundert runzelte Tobias die Stirn. Er ging diesen Weg jeden Morgen, wenn er zur Schule musste, und war sich sicher, dass es rechts von der Sackgasse, auf der sie liefen, keine Häuser mehr gab, sondern lediglich einen großen unbebauten Acker. 

    Doch als sie das Ende der Straße erreichten, und er sich nach rechts wandte, war ihm, als würde er träumen. Ein nahezu mystischer Anblick tat sich vor ihm auf: Uralte, mächtige Bäume mit dicken, knorrigen Ästen, die miteinander verflochten waren wie ineinander verschränkte Finger, säumten eine Gasse, die der Winterhimmel in ein magisches Licht tauchte. Die dunklen Schatten, die durch das Astwerk auf die reinweiße Decke aus Puderschnee fielen, muteten ein wenig gespenstisch an, wie geisterhafte Erscheinungen, die zwischen den Bäumen hin und her huschten. 

    Nach einigem Zögern folgte Tobias Jahwe durch die märchenhafte Allee, bis sie hinter einer Biegung, verborgen zwischen hohen Tannen, auf einen winzigen, windschiefen Fachwerkbau stießen. In den Fenstern funkelten unzählige Sterne, während hell erleuchtete Fackeln den Weg zur hölzernen Eingangstür wiesen. 

    Das Haus strahlte etwas derart Einladendes aus, dass Tobias wie von einer unsichtbaren Kraft angezogen darauf zusteuerte. Ehrfürchtig näherte er sich dem lebensgroßen Hirsch, der mit seinem imposanten Geweih fast den gesamten Vorgarten einnahm.

    »Ist der echt ..., ich meine, . . . lebt der?«, stotterte er und hob zaghaft die Hand. Es reizte ihn, das samtig weiche Fell zu berühren. 

    »Er ist so lebendig, wie du ihn dir denkst«, antwortete Jahwe sybillinisch. »Aber nun komm herein. Meister Abraham erwartet uns schon«, forderte er Tobias auf.

    »Wer?« Tobias folgte seinem Gastgeber, wobei er den Blick nicht vom Hirsch lassen konnte. Er hätte schwören können, dass dieser sie mit den Augen verfolgte und ihm zuzwinkerte.

    Kaum, dass er über die Schwelle des Fachwerkhäuschens getreten war, warteten jedoch schon die nächsten Überraschungen auf ihn. Eine große Tanne, geschmückt mit roten und goldenen Kugeln, glitzernden Zapfen und Lametta zierte die Mitte des Raums. Vor dem Baum stand ein hölzernes Schaukelpferd, das sachte hin und her wippte, als hätte eben noch jemand auf ihm gesessen. Um den Stamm der Tanne herum drehte eine Modelleisenbahn ihre Runden. Die Kerzen, die auf den Zweigen steckten, waren entzündet und tauchten das Zimmer in ein gemütliches Licht, während das Feuer im Kamin eine behagliche Wärme verbreitete. 

    Tobias Blick wanderte über die dunklen Holzbalken und Möbel, bis er an einer Anrichte mit einem kleinen bunten Jahrmarktkarussell hängen blieb. Neugierig ging er näher. »Was ist das?«

    »Eine Spieluhr«, klärte Jahwe ihn auf. Kaum, dass er es ausgesprochen hatte, fing das Karussell an, sich wie von Geisterhand zu drehen und eine hübsche Melodie erklang.

    Tobias lauschte verzückt und setzte, nachdem die Melodie verklungen war, seinen Erkundungsgang fort. Auf einem Beistelltischchen entdeckte er ein nostalgisch anmutendes Telefon mit Wählscheibe.  »Wow, ist das schön«, sagte er und fuhr sanft mit den Fingern über die mattschwarze Oberfläche. »Kann man damit auch telefonieren?«

    »Ja, sogar bis ganz nach oben«, antwortete Jahwe und zeigte zum Himmel.

    Ehe Tobias sich fragen konnte, was Jahwe wohl damit meinte, fiel ihm auf, dass es mit einem Mal verführerisch nach Bratapfel und Vanille duftete. Er drehte sich um und sah, dass der Tisch zwischenzeitlich gedeckt worden war und mit zwei gefüllten Tellern, zwei Tassen und einer großen Kanne voll dampfend heißem Kakao auf sie wartete. Irritiert sah er sich um. Er war sich sicher, dass sein Gastgeber den Raum nicht verlassen hatte. »Wer hat denn den Tisch gedeckt? Sind wir nicht allein?« 

    Jahwe schmunzelte. »Ich sagte dir ja schon, Meister Abraham erwartet uns.« Er deutete mit dem Kinn auf den ledernen Ohrensessel in einer dunklen Ecke des Raums, der unter einer Stoffbezogenen Stehlampe stand. 

    Tobias brauchte einen Moment, bis er begriff. Im fahlen Lichtschein der Lampe entdeckte er einen weißen Kater, der es sich auf einer gemusterten Decke auf der Sitzfläche bequem gemacht hatte. Er hatte nur noch ein Auge und auch sein linkes Ohr fehlte zur Hälfte. Sein verbliebenes Auge, mit dem er Tobias aufmerksam beobachtete, umgab ein schwarzer Fellkranz, sodass es aussah, als trüge er ein Monokel. Trotz seines lädierten Äußeren strahlte der Kater eine enorme Würde aus. 

    »Willst du mich veräppeln?«, fragte Tobias. »Ein Kater soll den Tisch gedeckt und das Essen zubereitet haben?« Er schüttelte sich vor Lachen. 

    »Abraham ist nicht irgendein Kater«, korrigierte ihn Jahwe mit einem nachsichtigen Lächeln. »Abraham ist schon sehr alt und viel weiser als die meisten Menschen.«

    Tobias schaute skeptisch drein, denn so recht glauben mochte er nicht, was Jahwe ihm da erzählte. Ein Kater, der weiser sein sollte als Menschen und Dinge vollbringen konnte, die kein Tier beherrschte. So etwas gab es doch nur im Märchen. Auf der anderen Seite wunderte ihn bald nichts mehr. Denn bis vor Kurzem hatte es auch dieses Haus und die geheimnisvolle Allee, die zu ihm führte, nie gegeben. Träumte er vielleicht mit offenen Augen? Er blinzelte ein paar Mal kräftig und kniff sich dabei in seine rechte Wange, wie es seine Mutter immer tat, wenn er ihr nicht zuhörte. Doch als er die Augen wieder weit öffnete, befand er sich noch immer inmitten des kleinen Fachwerkbaus.

    »Wie alt ist Abraham denn?«, wollte er wissen.

    »Oh, Abraham ist schon seeehr alt - mehrere tausend Jahre«, antwortete Jahwe, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt.

    »Was? Mehrere tausend Jahre! . . . Und du?«, entfuhr es Tobias. »Bist du etwa auch schon so alt?«

    Doch Jahwe lächelte wieder nur sein unergründliches Lächeln und wies auf den Tisch. »Setzt dich doch, mein Junge. Wir wollen doch nicht, dass der Bratapfel und die Schokolade kalt werden, oder?«

    Folgsam setzte sich Tobias hin und fing wortlos an zu essen. Der Bratapfel schmeckte köstlich nach Zimt, Marzipan, Nüssen und Vanille und der Kakao war so herrlich süß, dass es ihm vorkam, als sei er im Paradies. Vergessen war die Kälte, vergessen war das Holz, das er zu Hause abliefern musste, ja, selbst an seine Mutter dachte er in diesem Moment nicht.

    Als sie mit Essen fertig waren, klingelte plötzlich das schwarze Telefon. Doch Jahwe machte keine Anstalten aufzustehen. »Geh ruhig dran. Es ist für dich«, sagte er zu Tobias.

    »Für mich? ... Aber es weiß doch niemand, dass ich hier bin.«

    »Nun geh schon.«

    Verdutzt stand Tobias auf und führte den schweren Hörer an sein Ohr. »Hallo?«, fragte er unsicher und starrte in die Sprechmuschel, als fürchte er, ein Geist könne herausspringen. 

      »Hallo Tobias . . . Ich spreche doch mit Tobias, oder?«, hörte er eine tiefe männliche Stimme. Es klang, als käme sie aus ganz weiter Ferne. Tobias nickte, obwohl der Anrufer ihn ja nicht sehen konnte, aber vor lauter Aufregung hatte es ihm die Sprache verschlagen.

    »Kann es ein, dass du dir etwas von ganzem Herzen wünscht?«, erkundigte sich der Mann.

    »Ich . . . mir etwas wünschen? . . . Was meinen Sie?«.

    »Denk einmal scharf nach«, forderte der Mann ihn freundlich auf.

    Doch Tobias verstand nicht, worauf sein Gesprächspartner hinauswollte.

    »Ein Fahrrad vielleicht?«, half ihm jener schließlich auf die Sprünge.

    »Ein Fahrrad! Oh, ja, ein Fahrrad hätte ich tatsächlich wahnsinnig gerne, so eins wie mein Freund Andy hat - himmelblau, mit Ledersattel, Sportlenker und gelben Katzenaugen zwischen den Speichen, die im Dunklen leuchten«, rief Tobias begeistert aus. »Aber woher wissen Sie das?«, fragte er.  »Ich habe meiner Mama nie davon erzählt. Sie hat nämlich kein Geld, um mir etwas zu schenken, schon gar nicht ein teures Fahrrad«, fügte er bekümmert hinzu.

    »Ich sehe schon, du bist ein braver Junge und willst deiner Mutter keinen Kummer bereiten«, sagte der fremde Mann. 

    In dem Moment fiel Tobias siedend heiß ein, dass seine Mutter ja auf ihn wartete. Entsetzt wandte er sich an Jahwe. »Wie spät ist es? Ich habe völlig vergessen, dass ich nach Hause muss, um das Holz zu bringen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach er wieder in den Hörer. »Danke, lieber Mann. Aber ich muss jetzt los.« Hastig legte er auf und eilte an seinem Gastgeber vorbei durch die Stube zur Tür. Auf der Schwelle drehte er sich noch einmal um. »Tschüss, Jahwe, und danke für alles«, rief er und stürmte davon.

    »Tschüss, mein Junge, lauf nur«, sagte Jahwe und winkte ihm hinterher.

    So schnell ihn seine Beine trugen, lief Tobias nach Hause. Die Glocken läuteten fünf Mal, als er die Tür zu ihrer Wohnung aufriss. Doch statt ihn auszuschimpfen, weil er über eine Stunde zu spät gekommen war und kein Holz mitgebracht hatte, schloss ihn seine Mutter zur Begrüßung in die Arme. »Da bist du ja. Wie schön. Ich habe schon auf dich gewartet«, sagte sie und drückte ihn fest an ihr Herz. 

    »Mama, es tut mir leid, dass ich zu spät bin. Aber du glaubst nicht, was mir passiert ist -«, fing Tobias atemlos an.

    Doch seine Mutter unterbrach ihn. »Du musst dich nicht entschuldigen. Komm lieber mit, ich habe etwas für dich.« Sie geleitete Tobias zum Wohnzimmer. Bevor sie die Klinke in die Hand nahm, zögerte sie einen Moment und bedachte ihren Sohn mit einem zärtlichen Blick. Dann öffnete sie die Tür. 

    Tobias glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Mitten im Zimmer funkelte ihm ein nagelneues Fahrrad entgegen, himmelblau, mit einem ledernen schwarzen Sattel und einem Sportlenker, genau so, wie er es sich immer gewünscht hatte. In den Katzenaugen spiegelten sich die Flammen, die im Kamin brannten, neben dem sich nicht nur frische, trockene Holzscheite stapelten, sondern auch ein Paar warme halbhohe Winterstiefel für ihn standen. 

    Begeistert stürzte Tobias zu dem zweirädrigen Gefährt. Seine Augen leuchteten, als er mit der Hand über den Sattel strich. »Mama, kannst du mich mal kneifen. Ist das für mich? . . . Woher -«

    »Für wen denn sonst?«, fiel ihm seine Mutter lachend ins Wort. 

    »Aber . . ., aber wir haben doch gar kein Geld -«, setzte Tobias an.

    Seine Mutter legte die Finger an die Lippen. »Pst!«, bedeutete sie ihm. »Manchmal geschehen zwischen Himmel und Erde eben Wunder, mein Sohn.« 

    »Aber -«

    »Kein Aber mehr. Freue dich einfach daran. Du hast es dir verdient. Und merke dir: Glaube immer fest an deine Träume. Dann werden sie eines Tages auch wahr.«

    Tobias lief zu ihr. »Danke, Mama!«, rief er freudig aus und umklammerte ihre Taille.

    »Ein Frohes Fest wünsche ich dir«, erwiderte sie und strich ihm sanft übers Haar, während sie im Stillen dem Himmel dafür dankte, dass er ihr diesen Sohn geschenkt hatte.  



Die letzte Nacht


Einst war das kleine B&B-Hotel inmitten des Harzes eine beliebte Adresse gewesen. Feriengäste aus Nah und Fern hatten in dem renovierten Bau aus der Vorwendezeit eine Unterkunft gebucht, nicht nur der ruhigen Lage und der familiären Atmosphäre wegen, sondern auch, weil sich von hier aus die Gegend so herrlich erwandern ließ. Manche von ihnen waren nur wenige Tage geblieben, andere eine Woche, wieder andere auch schon mal länger. Einige waren über die Zeit sogar zu Stammgästen geworden, wie das Ehepaar aus Nordrhein-Westfalen, das zwei Mal im Jahr herkam, um seine Tochter zu besuchen, die im Nachbarort wohnte, oder der junge Fotograf aus Sachsen, der nie müde wurde, in den Wäldern und Auen neuen Motiven hinterherzujagen.

Doch dann hatte es das Beherbergungsverbot gegeben und von da an war es mit dem Hotel Zur Lärche bergab gegangen. Hans, der Hoteldirektor, hatte von einem Tag auf den anderen seine komplette Belegschaft in Kurzarbeit schicken müssen. Auf die Art hatte er seinen Leuten zwar einen Teil ihres Gehalts weiterzahlen und sie eine Zeitlang mit Verlegenheitstätigkeiten beschäftigen können. Aber nachdem alle Gläser fünf Mal poliert, die Teppiche grundgereinigt und die Zimmerecken und das Inventar von sämtlichen Flecken und Staubflocken befreit worden waren, während die Überbrückungshilfen allmählich versiegten, rutschte der Betrieb immer mehr in die roten Zahlen. 

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    Est im letzten Sommer hatte sich die Lage ein wenig gebessert: Die Zahl der Buchungen nahm nach und nach wieder zu und Hans hatte schon Hoffnung geschöpft, dass sich alles wieder zum Guten wenden würde. Aber dann war Putin in die Ukraine einmarschiert und das Zittern und Bangen ging von vorne los. Eine ungewöhnlich hohe Inflation hielt Einzug in Deutschland, die Preise für Gas, Öl, Strom und Lebensmittel schossen in die Höhe und die Umsätze sanken erneut. Egal, wie oft Hans zum Taschenrechner griff, er konnte sich die Lage nicht schönrechnen. Spätestens im März wären seine kargen Rücklagen aufgebraucht. 

    Schweren Herzens hatte er sich daher entschlossen, das Hotel zum Jahresende zu schließen und seinen Mitarbeitern nahegelegt, sich nach neuen Jobs umzusehen. Suse, das Zimmermädchen, füllte nun die Regale in einem Supermarkt, Damir hatte eine Stelle als Kurier bekommen, Hans zweite Servicekraft Magdalena, eine gelernte Krankenschwester, arbeitete wieder im Pflegebereich und Alfons, Hans Küchenhilfe, hatte sich vorzeitig in Rente verabschiedet. 

    Hans rechnete ihnen hoch an, dass sie ihm bis zum Schluss die Treue gehalten hatten, anders als seine Frau. Hilde hatte von einem auf den anderen Tag mit Verweis auf eine ungewisse Zukunft an seiner Seite die Koffer gepackt und war ausgezogen. Hans war wie vor den Kopf geschlagen gewesen. Gleichzeitig war er sich sicher, dass Hilde die drohende Hotelpleite nur als Vorwand genutzt hatte, um endlich einen Schlussstrich unter ihre Ehe ziehen zu können. Denn der Haussegen hing bei ihnen nicht erst seit der Corona-Krise schief.

    Mit einem mulmigen Gefühl trat Hans den letzten Rundgang durch das menschenleere Gebäude an. In der verwaisten Lobby, in der einst das Durcheinander von Stimmen hin und her geschwappt war wie Brandungswellen, herrschte eine nahezu gespenstische Stille. Die Möbel waren abgedeckt und der Fahrstuhl außer Betrieb. Blinzelnd ließ Hans seine Augen über das Schlüsselbrett gleiten, dessen gekrümmte Finger siebzehn goldfarbene Anhänger hielten. Keinen von ihnen würde er jemals mehr mit den Worten »Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt«, über die Theke reichen, begleitet von dem hellen Klirren der gegeneinanderschlagenden Schlüssel.

    Mit schleppenden Schritten erklomm er die alte Holztreppe, deren Stufen ächzend dagegen protestierten, ihm diesen letzten Dienst erweisen zu müssen. Die Grabesstille, die ihn auf der ersten Etage empfing, erschien Hans beinahe noch erdrückender als das fehlende Stimmengewirr in der Lobby. Eine nach der anderen öffnete er die Zimmertüren, warf einen prüfenden Blick in die dahinterliegenden Quadratmeter, in dem Wissen, dass es dort nichts mehr zu finden gab, außer der Vergangenheit, die zwischen den Wänden und über den leeren Betten schwebte wie ein flüchtiger Windhauch. Auf der zweiten Etage bot sich ihm dasselbe trostlose Bild und mit jedem weiteren Zimmer, das er abschritt, rückte das Ende unausweichlich näher. Es war wie ein Abschied auf Raten. 

    Dunkelheit hatte das Regiment übernommen und ein leichter Schneefall hatte eingesetzt, als er wieder in die Lobby trat. Hans verzichtete darauf, Licht zu machen und ging, müde und bar jeder Hoffnung, zur Sitzecke neben dem Eingang. Er ließ sich auf einen der Sessel plumpsen, ohne das weiße Laken, das ausgebreitet wie ein Totentuch über Lehnen und Sitzfläche lag, zu entfernen. Unter schweren Augenlidern schweifte sein Blick noch einmal durch die entseelte Eingangshalle. Das war sie also, die letzte Nacht des Hotels "Zur Lärche" und zugleich das Ende seiner Ära als Hoteldirektor. Bitterkeit stieg in ihm auf. Wäre Hilde nicht Knall auf Fall ausgezogen, könnten sie beide heute Abend hier zusammensitzen und Pläne für die Zukunft schmieden. So aber hatte er niemanden mehr, mit dem er einen Neuanfang wagen konnte. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, was Hilde wohl in der Silvesternacht machte. Saß sie vielleicht auch allein in ihrer neuen Wohnung oder feierte sie mit Freunden? Mit einem Ruck richtete er sich wieder kerzengerade auf. Seine Müdigkeit war schlagartig verflogen. Er würde es nur erfahren, wenn er sie anrief. Nervös fingerte er das Handy aus der Jacke und wählte Hildes Nummer. Nach dem zweiten Läuten nahm sie ab.

    »Einen wunderschönen guten Abend, Hilde. Ich wollte dir nur einen guten Rutsch wünschen«, flötete Hans betont fröhlich in den Hörer. 

    »Danke. Den wünsche ich dir auch. Möge das neue Jahr dir mehr Glück bringen, als das alte«, entgegnete Hilde zu Hans Verwunderung ungewohnt friedfertig.

    »Wo bist du?«, fragte Hans.

    »Zu Hause. ... Warum?«

    »Ach, ich dachte, ..., ich wollte ... Hättest du nicht Lust, vorbeizukommen und gemeinsam mit mir auf das Neue Jahr und die guten alten Zeiten anzustoßen – nur so, aus alter Verbundenheit, meine ich?«, stammelte er.

    Hilde zögerte einen Augenblick. »Ja, warum eigentlich nicht. Ich habe eh nichts vor. Ich muss mich nur kurz umziehen und bin in einer halben Stunde bei dir.« 

    Hans überfiel ein Kribbeln am ganzen Körper. Schnell zog er die Laken von den Sesseln, machte das Licht an und lief in seine hinter dem Hotel gelegene Wohnung, um zwei Sektgläser und eine Flasche Mumm zu holen - und die leckeren Mandelhörnchen, die Hilde so gerne aß. Alfons hatte Hans auf dessen Bitte hin vier Stück davon am Nachmittag gebacken - für alle Fälle, wie Hans ihm augenzwinkernd zugeflüstert hatte. Dieser Fall war nun eingetreten.

    Eine gute halbe Stunde später stand Hilde in ihrem blauen Kostüm in der Lobby des Hotels, faltenlos und schön wie immer, trotz ihrer 54 Jahre. Schneeflocken glitzerten in ihren dunkelblonden Haaren und verliehen ihr das Aussehen eines Engels. Einen Wimpernschlag lang überkamen Hans Zweifel, ob es richtig war, was er hier tat. Aber er verdrängte das ungute Gefühl, begrüßte Hilde mit zwei Wangenküssen und geleitete sie zur Sitzecke. Schnell entspann sich ein zwangloses Gespräch, in dem sie sich über Erlebnisse und Anekdoten aus dem Hotelalltag und den zurückliegenden gemeinsamen Jahren austauschten und Hildes glockenhelles Lachen erfüllte die Lobby. Sie klang so befreit wie schon lange nicht mehr.

    Um Viertel vor Zwölf stand Hans auf und holte den Sekt, die Gläser und die Mandelhörnchen. Das Schneetreiben war dichter geworden und vor den Scheiben tanzten die Flocken.

    »Wo hast du die denn jetzt so schnell hergezaubert?«, erkundigte sich Hilde überrascht. Ihre Augen strahlten.»Sag bloß, die sind von Alfons?« 

    »Von wem sonst? Niemand weit und breit backt bessere Mandelhörnchen als Alfons.« Hans reichte Hilde den Teller. Entzückt griff sie zu. 

    Mittlerweile war es drei Minuten vor Zwölf. Während Hans die Gläser mit dem prickelnden Schaumwein füllte, biss Hilde mit einem beseelten Gesichtsausdruck in ihr Hörnchen. »Mhhh, sind die köööstlich. Dieses Mandelaroma – göttlich. Alfons hat sich wieder mal selbst übertroffen«, schwärmte sie mit halbvollem Mund. »Für die Dinger könnte ich sterben«, fügte sie nuschelnd hinzu. Ihre vollen Lippen verzogen sich zu einem entrückten Lächeln.

    Hans lächelte zurück und sah ihr geduldig dabei zu, wie sie das Hörnchen verschlang. Dann umfasste er den Stiel seiner Sektflöte und hob sie an. 

    Hilde wollte es ihm nachtun, hielt aber mitten in der Bewegung irritiert inne. Statt zu ihrem Glas, wanderten ihre Hände urplötzlich an ihre Kehle. Keuchend rang sie nach Atem und wand sich unter Krämpfen, während ihre Pupillen sich weiteten, als sie begriff. 

    Punkt Mitternacht, als draußen lautes Glockengeläut einsetzte und die ersten Feuerwerkskörper in den Himmel flogen, rutschte sie leblos vom Sessel.

    »Frohes Neues Jahr, Hilde«, flüsterte Hans und führte das Sektglas um Mund.

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